Wuchtwasser in Tirol
Schon von weitem erkennt man auf dem Campingplatz den blauen Kajakchallenge-Truck mit 20 bunten Booten auf dem Dach und auch sonst mit allem Equipment ausgerüstet, was man sich wünschen kann. Aufgrund von Auflösungserscheinungen meiner Paddeljacke nutze ich die Gelegenheit, eine Trockenjacke zu testen, während Marcus sich für eine Spritzdecke entscheidet. Andere Teilnehmer suchen sich Boot und Paddel aus.
Marcus und ich sind angereist, um endlich unsere „Bildungslücke“ Imster Schlucht zu schließen. Doch zuerst geht es auf einen einfacheren Abschnitt des Inn, denn Kanulehrer Picco will sich von den Fähigkeiten seiner sechs Schützlinge überzeugen. In Landeck setzen wir an der Mündung der Sanna in den Inn ein, entgegen den Vorhersagen des Wetterberichts bei strahlendem Sonnenschein. Beim Traversieren der Strömung können die ersten Teilnehmer schon Roll- oder Schwimmkenntnisse unter Beweis stellen.
Dann geht es flussabwärts in Formation „Wolke“. Auf hellgrünem Gletscherwasser mit flotter Geschwindigkeit laden kleine Wellen, Wälzchen und Kehrwässer zum Üben ein. An einer kleinen Stufe erwischt es auch mich und ich kann demonstrieren, dass die Rolle doch noch klappt. Und die neue Trockenjacke macht ihrem Namen Ehre, ich bleibe tatsächlich trocken.
Nach zwölf Kilometern erreichen wir die Ausstiegsstelle, wo der blaue Truck auf uns wartet. Dunkle Wolken ballen sich zusammen, ein heftiges Gewitter entlädt sich zum Glück erst, als wir alles verladen haben und im Truck sitzen.
Am nächsten Tag steuern wir die Innschluchten des Engadins an. Picco hat die Scuolser Strecke ausgeguckt. Von der Straße aus können wir bei der Anfahrt immer wieder Blicke in den Fluss werfen: steil, steinig, schäumend. Auch zwei der insgesamt drei Kernstellen im IV-er Bereich sind einsehbar. In mir macht sich plötzlich Panik breit und ich erkläre an der Einsatzstelle einem verdutzten Picco, dass ich nicht mitfahren will. Picco redet beruhigend auf mich ein und schafft es schließlich, dass sich sein Vertrauen in meine paddlerischen Fähigkeiten auf mich überträgt. Na gut, ich fahr doch mit.
Heute ist eine feste Reihenfolge angesagt, dank meiner Panikattacke vorhin darf ich direkt hinter Picco fahren. Der Inn ist hier schneller als auf der gestrigen Strecke, nach den ersten Metern gewöhne ich mich an die Geschwindigkeit, merke, dass ich besser klarkomme als gedacht und mein Pulsschlag geht auf Normalniveau zurück. Schnell erreichen wir die erste Kernstelle. Susa, Jan und ich nehmen die Chickenline „ zo Fooß“, während die drei Helden Marcus, Joachim und Jürgen sich mutig hinter Picco den schäumenden Katarakt hinunterstürzen. Auch die zweite Stelle ist kurz darauf erreicht und wird ähnlich gemeistert.
Dann geht es flott weiter über kleine Stufen und verblockte Katarakte. Eine Stufe mit einem tückischen seitlichen Presswasser kostet uns zwei Schwimmer, wovon einer leider sein Paddel verliert. Damit ist für Jürgen hier die Fahrt zu Ende, Susa zeigt Loyalität und bricht die Fahrt ebenfalls ab, um ihm Gesellschaft zu leisten.
Die Fahrt geht durch den Kurort Tarasp, auf etwas ruhigerem Wasser, so dass wir die Kulisse des prächtigen Kurhauses bewundern können. Danach legt der Inn noch mal zu und über einen rassigen Schwall geht es der dritten und letzten Kernstelle entgegen. Ein verblockter Katarakt, gespickt mit fiesen Walzen und Presswassern an einer Prallwand entlang. Hier steigen wir alle aus und tragen zur Straßenbrücke hoch, wo Picco uns mit dem Truck einsammeln kommt.
Auch am dritten Tag verwöhnt uns strahlender Sonnenschein – wer schreibt eigentlich diese deprimierenden Wetterberichte? Perfektes Wetter, um die Imster Schlucht in Angriff zu nehmen. Beim Frühstück berichtet Jan von einer Kinderskischule, die er im letzten Urlaub gesehen hat: Der Skilehrer sauste vorneweg und skandierte: „Hundehütte, Hundehütte“, worauf die folgende Kinderschar mit „Wau, wau, wau!“ antwortete und so abgelenkt furchtlos die Hänge hinunterfegte. Picco war sofort angetan von der Idee und kündigte an, es in sein Schulungskonzept aufzunehmen.
Wir setzen in Schönwies ein und haben so erstmal zehn Kilometer bis zur Imster Schlucht, auf denen wir uns warm paddeln können – Formation Wolke. Der Beginn der Schlucht kündigt sich durch das Auftauchen erster Rafts an. Im Kehrwasser des Rafteinstiegs sammeln wir uns, um Piccos Anweisungen zu lauschen.
Dann geht es – in Reihenfolge – der Brücke entgegen, unter der wir eben das Raft ziemlich unvermittelt verschwinden sahen – der erste Schwall der Imster Schlucht. Kurz bevor wir ihn erreichen, dreht sich Picco zu uns um: „HUNDEHÜTTE, HUNDEHÜTTE!“ – wie aus einer Kehle erschallt unsere Antwort: „WAU, WAU, WAU!“. Eine Raftbesatzung guckt irritiert, aber das neue didaktische Konzept geht auf: Wir paddeln voller Elan in die hohen Wellen und schaukeln unfallfrei den Schwall abwärts. So geht es weiter, ruhige Strecken wechseln sich mit immer wuchtigeren Schwällen ab. Kurz vor der Mündung der Ötz lotst uns Picco auf die linke Flussseite, um der berüchtigten Memminger Walze zu entgehen. Da die Sonne ordentlich auf die Gletscher brät, bringt die Ötz erhebliches Wasser in den Inn, was Wellenhöhe und Wucht ab hier noch einmal steigert.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erreichen wir Haiming. Der Pegel zeigt 290 cm, nicht schlecht. Nachdem der Truck beladen ist, gönnen wir uns noch ein kühles Radler im gegenüberliegenden Biergarten.
Ab Mittwoch ändert sich das Wetter auf kühl und regnerisch. Am Donnerstag wälzt der Inn schlammbraunes Hochwasser durch Prutz. Picco entscheidet, heute die Sanna zu befahren. Es soll sehr aufregend und beeindruckend gewesen sein, ich bin leider nicht dabei, da mich eine heftige Erkältung ins Bett zwingt. Auch den Freitag, an dem die Strecke des ersten Tages mit deutlich höherem Wasserstand gepaddelt wird, erlebe ich nur als Shuttlebunny.
Gina